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„Wie eine normale Familie leben“

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„Wie eine normale Familie leben“

22 Oktober 2018 Auch verfügbar auf:
Pema, 38 Jahre, im Besitz einer vorläufigen Aufnahme in der Schweiz, hat aufgrund ihres Exils sechs lange Jahre getrennt von ihren beiden ältesten Kindern gelebt. © UNHCR/Mark Henley

Nach Trennungen, Sorgen und Hoffnungen nahm das zerstückelte Leben von Pema die Form des Familienfotos an, das auf dem Altar in ihrem Wohnzimmer steht. Darauf ist sie umgeben von ihren Kindern im Alter von zwölf, zehn und fünf Jahren zu sehen – eine Erinnerung an einen kurzen Aufenthalt in Indien im Sommer 2017. Als wir Pema in ihrer Wohnung treffen, ist allerdings nur der Jüngste, Champo, da – und verspeist in Ruhe und mit Genuss sein Zvieri.

Pema kam vor sechs Jahren in die Schweiz. Sie war damals mit ihrem dritten Kind schwanger. Da sie plötzlich in der Nacht aus ihrem Dorf fliehen musste, konnte sie sich von ihren beiden schlafenden, älteren Kindern nicht einmal verabschieden. Um ihr Leben fürchtend, hatte sie keine andere Wahl als illegal in Nepal eine erste Zuflucht zu suchen. Letztlich kam sie in die Schweiz und stellte hier einen Asylantrag. Pema war bereit, sich trotz der Schwangerschaft, die sie allein durchzustehen hatte, den Schwierigkeiten des Verfahrens zu stellen. Ihr Mann, der in Tibet geblieben war, um sich um den behinderten Schwiegervater zu kümmern, beschloss vier Jahre später, die beiden älteren Kinder nach Indien zu schicken, wo sie ihre Mutter treffen sollten. Als es dem Mönch, der sie begleitete, nicht gelang, die Mutter zu finden, brachte er die Kinder bei einem tibetischen Paar in Neu-Delhi unter. Ab diesem Zeitpunkt konnten die Kinder nicht mehr zurück, da eine illegale Ausreise aus Tibet in China als Straftatbestand gilt. Sie konnten jedoch ihrer Mutter auch nicht in die Schweiz folgen, da ihnen dafür die Mittel fehlten.

„Mein Sohn hat mich nach all den Jahren fast nicht wiedererkannt, aber die Bindung war schnell wieder da.“

Pema, 38, hat während sechs Jahren getrennt von ihren zwei älteren Kindern gelebt.

2016 erhielt Pema zum ersten Mal Nachricht von ihren Kindern und deren Ankunft in Indien. Im Sommer 2017 bekam sie dann die Erlaubnis, sie dort zu besuchen. „Mein Sohn hat mich nach all den Jahren fast nicht wiedererkannt, aber die Bindung war schnell wieder da.“ Die Situation der Kinder war Pemas Berichten zufolge alles andere als rosig: Das tibetische Paar hatte sie zwar günstig bei sich wohnen und essen lassen, betreuten die Kinder aber nur, wenn die beiden abends zu Hause waren. Tagsüber waren die Kinder ohne Erziehungsberechtigte sich selbst überlassen, ohne zur Schule gehen zu können. Auch die Alternative, dass Pema zu ihnen nach Indien zieht, schien aufgrund der fehlenden Perspektiven und Möglichkeiten, ihre Familie dort durchzubringen, nicht machbar.

Deshalb nutzte Pema den Monat, den sie mit ihren Kindern in Indien verbrachte, um ihnen das Notwendigste beizubringen: für sich selbst zu kochen, aber auch in einer unbekannten Stadt für ihre Sicherheit zu sorgen. Nur so konnte sie damit umgehen, dass sie ihre Kinder zwischen zwei Ländern auf sich selbst gestellt zurücklassen musste. „Ich hatte ständig Angst, dass sie in Gefahr sind“, erzählt sie beklommen.

 

In der Schweiz war Pema im März 2015 vorläufig aufgenommen worden (Ausweis F – Flüchtling). Mit diesem Status hatte sie nur unter ganz bestimmten Bedingungen, darunter einer Sperrfrist von drei Jahren, Anspruch auf Familiennachzug. Diese lange Wartezeit wurde für sie angesichts der Situation, in der sich ihre beiden älteren Kinder befanden, zu einer ständigen Sorge, die ein normales Leben verhinderte. „Manchmal konnte ich vor lauter Sorge gar nicht mehr schlafen.“

Für viele Flüchtlinge ist der Familiennachzug einer der ersten unverzichtbaren Schritte, um sich im Aufnahmeland ein neues, stabiles Leben aufbauen zu können. Dies gilt im besonderen Masse dann, wenn sich die Familie ausserhalb der Schweiz in gefährlichen oder prekären Situationen befindet. Aber im Falle von vorläufig aufgenommenen Personen machen die auferlegten Einschränkungen dieses Grundbedürfnis häufig zu einem wahren Hindernislauf. Neben der dreijährigen Sperrfrist fordern die Behörden den Nachweis ausreichender finanzieller Mittel, um die Familie in Zukunft zu versorgen. Das bedeutet vor allem eine Wohnung und eine ausreichend gut bezahlte Arbeitsstelle.

„Ich habe alles getan, was ich konnte, aber ich hatte lange Angst, dass es niemals genug sein würde. Manchmal konnte ich vor lauter Sorge gar nicht mehr schlafen.“

Die lange Wartezeit wurde zu einer ständigen Sorge für Pema, die alles dafür tat, um die Bedingungen für das lang ersehnte Wiedersehen zu erfüllen.

Pema tat alles dafür, um die Bedingungen für das lang ersehnte Wiedersehen zu erfüllen: Sie ging putzen und richtete es so ein, dass sie nach und nach in Vollzeit arbeitete – während sie gleichzeitig ihr jüngstes Kind allein grosszog. Da es ihr unmöglich erschien, drei Jahre lang nur abzuwarten, ohne etwas zu tun, setzte sie mithilfe der Rechtsberatung der Caritas alle Hebel in Bewegung, damit ihre Kinder so schnell wie möglich in die Schweiz kommen konnten. „Ich habe alles getan, was ich konnte, aber ich hatte lange Angst, dass es niemals genug sein würde, dass man immer noch mehr einfordert – ein Dokument, das ich einreichen, eine Bedingung, die ich erfüllen muss – bis ich aufgebe“, erinnert sich Pema mit belegter Stimme.

Sie hatte das Glück, sich in dieser schwierigen Zeit auf die Solidarität der lokalen Bevölkerung verlassen zu können, die von ihrem Kampf beeindruckt waren: Sie unterstützten ihren Antrag auf Familiennachzug unter anderem mit einer Petition, die von fast 3000 Menschen unterzeichnet wurde.

Im April 2018 – also drei Jahre nach Ausstellung des Ausweises F und nicht weniger als sechs Jahre nach ihrer Ankunft in der Schweiz – traf die lang ersehnte Nachricht endlich ein: Nach unzähligen Unwägbarkeiten, Formalitäten und entmutigenden Momenten wurde dem Antrag auf Familiennachzug von den Schweizer Behörden endlich stattgegeben.

Die beiden Kinder sind schliesslich vor einigen Wochen in der Schweiz eingetroffen. In der gemeinsamen Wohnung zieren Opfergaben das Wohnzimmer, Gebetsfahnen wehen über dem Balkon. Pemas Gebete, welche die Kinder in den langen Monaten des Wartens begleitet haben, wurden erhört. Endlich wurde ihre Beharrlichkeit belohnt. Heute will Pema nur noch eines: „Ich möchte ganz einfach, dass wir endlich wie eine vollkommen normale Familie leben können.“

 


Die vorläufige Aufnahme: ein nur temporäres Bleiberecht

Nicht alle Asylsuchende, denen in ihrer Heimat schwere Gefahren drohen, werden in der Schweiz als Flüchtlinge anerkannt. Menschen, die zum Beispiel vor Krieg und Bürgerkrieg fliehen, erhalten meist nur eine vorläufige Aufnahme, die jährlich erneuert werden muss und nur limitierte Rechte gewährt. Dennoch können sie häufig für lange Zeit nicht in ihre Heimat zurückkehren, da Konflikte oft über Jahrzehnte andauern.

Schätzungsweise bleiben 90 % der vorläufig Aufgenommenen langfristig in der Schweiz, ohne Aufenthaltsbewilligung und entsprechende Integrationsmassnahmen. Dieser Status ist der Grund für einen erschwerten Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt. Die meisten Arbeitgeber und Vermieter werden durch die irreführende Bezeichnung des „vorläufigen“ Aufenthalts dieser Personen abgeschreckt. Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, traten kürzlich Verbesserungen, wie zum Beispiel die Abschaffung der Spezialsteuer, in Kraft. Der Bund und die Kantone haben sich ausserdem im April 2018 auf ein Integrationsprogramm geeinigt, um die Integration von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen zu beschleunigen und zu intensivieren. Es gibt jedoch weiterhin wichtige Herausforderungen. Der Familiennachzug ist zum Beispiel nur nach drei Jahren nach Erhalt der vorläufigen Aufnahme möglich, wie im Fall von Pema. Dies ist für die Betroffenen oft sehr schmerzhaft und kann die erfolgreiche Integration behindern.

Die vorläufige Aufnahme gibt es nur in der Schweiz und in Liechtenstein: Alle anderen Staaten Europas haben einen speziellen Schutzstatus eingeführt, der bessere Integrationsperspektiven bietet. UNHCR setzt sich dafür ein, auch in der Schweiz einen solchen Status einzuführen und möchte die Öffentlichkeit für die Problematiken der vorläufigen Aufnahme sensibilisieren.