«Die Oksana von damals»
«Die Oksana von damals»

Oksana mit ihrer Mutter Natalia in Liechtenstein
Die Flucht
Oksana Bidonko wuchs in einer kleinen Ortschaft in der Region Cherson im Süden der Ukraine auf. Heute liegt ihr Heimatort in besetztem Gebiet.
Vor der russischen Invasion stand Oksana mitten im Leben: In Odessa, einer Stadt 200 km westlich ihrer Heimatstadt, war sie selbstständig erwerbstätig und sorgte zusammen mit ihrem Ehemann für ihren gemeinsamen Sohn. Doch mit dem Beginn des Angriffskriegs im Februar 2022 brach ihre Welt zusammen.
«Oksana erzählt: «Mein Bruder sagte kurz vor dem Krieg, unser Leben sei geregelt, aber befürchtete gleichzeitig, dass etwas Schlimmes passieren könnte.» Nur wenige Wochen später marschierten die russischen Truppen in die Ukraine ein. Die Familie floh zunächst in den Westen der Ukraine. Dann sah sich Oksana zur schwerwiegenden Entscheidung gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen.
In Liechtenstein konnten Bekannte sie und ihren Sohn kurzzeitig aufnehmen. Rasch erhielten die beiden den Schutzstatus S. Auch Oksanas Ehemann und ihre Eltern kamen schliesslich nach.
Vorübergehender Schutz für Flüchtlinge aus der Ukraine
Am 16. März 2022 aktivierte Liechtenstein den vorübergehenden Schutz für Flüchtlinge aus der Ukraine (Status S), um eine Überlastung der Asylbehörden zu verhindern. Die gesetzlichen Grundlagen sind an diejenigen der Schweiz und der EU angelehnt.
Heute beherbergt Liechtenstein 708 Personen mit Status S. Gemessen am Bevölkerungsanteil liegt der Kleinstaat mit 17 Schutzsuchenden pro 1000 Einwohnern im europäischen Vergleich im oberen Mittelfeld. Flüchtlinge aus der Ukraine repräsentieren mit Abstand die grösste Flüchtlingsgruppe in Liechtenstein: Insgesamt 318 Personen stellten im Jahr 2024 ein Gesuch um Status S. Das macht 78% aller Asyl- und Schutzgesuche in Liechtenstein aus.
Ein sicherer Hafen
«In Liechtenstein ist es traumhaft», sagt Oksana. «Ich habe hier alles, was ich brauche.» Besonders die breite Unterstützung der lokalen Bevölkerung hat sie tief beeindruckt: «Die Menschen sind sehr grosszügig und haben uns mit so viel Mut und Zeit geholfen. Dafür bin ich unendlich dankbar.»
Ihrem Sohn fiel das neue Leben anfangs schwer, weil die Flucht ihn von seinen Freunden getrennt hatte. Doch die Lehrpersonen an der neuen Schule schufen ein Umfeld, in dem er sich rasch integrieren konnte. «Jetzt fühlt er sich wie ein Fisch im Wasser», erzählt Oksana lächelnd. Unterdessen hat er neue Freundschaften geknüpft und eine Lehrstelle als Logistiker gefunden.
Dank ihrer ausgezeichneten Deutschkenntnisse fand Oksana in Liechtenstein eine Stelle als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache. Der Anschluss in den Arbeitsmarkt war für sie ein zentraler Schritt zurück zu einer gewissen Normalität: «Ich rate jedem Flüchtling, so schnell wie möglich eine Arbeit zu finden. Es hilft, die Gedanken an die Heimat zu verdrängen.»

Oksana im Klassenzimmer
«Die Oksana von damals existiert nicht mehr»
Die Familie baut sich in Liechtenstein ein neues Leben auf, aber die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat ist allgegenwärtig. Diese wird nie mehr sein, wie sie mal war: «Es fällt sehr schwer zu sehen, wie die Orte, die du so gut kennst und die dir am Herzen liegen, vernichtet werden. Mein Heimatort und das Elternhaus waren wie eine Rettungsinsel für mich. Ein Ort, an den ich alle paar Monate zurückkehren konnte, um Kraft zu tanken», erzählt sie, «Das habe ich für immer verloren».
Krieg und Flucht haben Oksana tiefgreifend verändert. «Früher war ich ein fröhlicher Mensch, aber heute bin ich nicht mehr dieselbe», sagt sie nachdenklich. «Ich möchte den Menschen hier nicht zur Last fallen, aber ich wünsche mir, dass sie verstehen, wie traumatisiert viele von uns sind – oft, ohne es selbst zu merken.»
Sie empfindet eine tiefe Dankbarkeit für die Unterstützung, die sie in Liechtenstein erhält: «Sehr oft frage ich mich, ob ich an ihrer Stelle die gleiche Stärke und Grosszügigkeit aufbringen könnte, fremden Menschen zu helfen.»
Trotz dem grossen Leid blickt sie nach vorn. Ihre Eltern träumen von einer Rückkehr in die Ukraine, doch ihr Sohn sieht seine Zukunft in Liechtenstein. Oksana schöpft Kraft aus der Hoffnung, dass die junge Generation eines Tages in die Ukraine zurückkehren kann. Oksana selbst ist zwiegespalten: «Ich fühle mich immer hin- und hergerissen zwischen meinem Leben hier und der Ukraine.»
«Flucht ist eine der schwierigsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann», sagt sie abschliessend, «Manchmal fühle ich mich, als wäre ich gestorben und jemand hätte vergessen, mich auszuschalten. Aber sonst ist alles gut.»