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Filippo Grandi zum 70. Jahrestag der Genfer Flüchtlingskonvention

Medienmitteilungen

Filippo Grandi zum 70. Jahrestag der Genfer Flüchtlingskonvention

28 Juli 2021 Auch verfügbar auf:
Bei dem Treffen wurde die Situation in Afghanistan besprochen, wo der Hochkommissar vor kurzem zu Besuch war und die humanitäre Lage als katastrophal bezeichnete. ©UNHCR/S.Hopper

Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 hat als Fundament des internationalen Schutzes für Menschen, die gezwungen sind, aus ihrer Heimat zu fliehen, unzählige Leben gerettet. Heute, an ihrem 70. Jahrestag, behaupten ihre Kritiker, sie sei das überholte Produkt einer anderen Ära. Aber wenn sie nicht verteidigt und respektiert wird, werden Millionen den Preis dafür zahlen. 

In den vergangenen sieben Jahrzehnten gab es kaum einen Platz auf der Erde, der nicht mit den Herausforderungen von Zwangsvertreibungen konfrontiert war. Ende letzten Jahres lag die Zahl der Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, einschliesslich der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen, bei 82,4 Millionen - eine Zahl, die sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt hat. 

Die Ursachen und die Dynamik der menschlichen Vertreibung sind ständig im Fluss, aber die Flüchtlingskonvention hat sich ständig weiterentwickelt, um diese Veränderungen widerzuspiegeln. Sie ist die moderne Verkörperung des Asylprinzips und wurde in den letzten 70 Jahren durch zahlreiche andere wegweisende Rechtsinstrumente ergänzt, die die Rechte von Frauen, Kindern, Behinderten, der LGBTIQ+-Gemeinschaft und vielen anderen stärken. 

Einige Regierungen haben in den letzten Monaten versucht, die der Konvention zugrundeliegenden Prinzipien zu untergraben, indem sie einem engstirnigen und oft falsch informierten Populismus nachgaben oder ihn ermutigten. Aber das Problem liegt nicht bei den Idealen oder der Sprache der Konvention. Das Problem liegt darin, dafür zu sorgen, dass die Staaten sie überall in der Praxis einhalten. 

Als 200.000 Ungarn im Jahre 1956 flohen, wurden fast alle von ihnen innerhalb von Monaten von anderen Ländern aufgenommen. Als ich anfing, im humanitären Bereich zu arbeiten - in Thailand in den frühen 1980er Jahren - wurden Hunderttausende von Flüchtlingen aus Indochina über Resettlement in der ganzen Welt aufgenommen. 

Heute werden solche Lösungen immer seltener. Während Flüchtlinge und Migranten weiterhin gefährliche und manchmal tödliche Reisen über Wüsten, Meere und Berge unternehmen und dabei um ihr Leben fürchten, versagt die internationale Gemeinschaft offensichtlich bei der Suche nach dauerhaften Lösungen für diese verzweifelten Menschen. 

Schlimmer noch, wir sehen jetzt Bestrebungen, Flüchtlingen Asyl zu verweigern und sogar die Verantwortung für ihren Schutz auszulagern, indem sie anderswo wie Waren «gelagert» werden. Doch wenn die reichsten Staaten, die mit den grössten Ressourcen gesegnet sind, mit dem Bau von Mauern, der Schliessung von Grenzen und der Zurückdrängung von Menschen auf dem Seeweg reagieren, warum sollten andere dann nicht nachziehen? Fast 90 Prozent der Flüchtlinge auf der Welt befinden sich in Entwicklungsländern oder in den am wenigsten entwickelten Ländern. Was sollen diese Staaten von einer solchen Verachtung des Schutzideals halten? 

Es gibt viele Möglichkeiten, die Zahl der gewaltsam Vertriebenen zu reduzieren. Entschlossenes Handeln zur Beendigung von Konflikten, die Verteidigung und Einhaltung der Menschenrechte, die Bekämpfung der Umweltzerstörung ... all dies wäre wirksam, da es die Ursachen der Vertreibung von Menschen an der Wurzel packen würde. 

Doch es gibt nicht genug politischen Willen für solche Lösungen. Langjährige Konflikte schwelen, während sich neue entzünden. Klimawandel und Umweltkatastrophen sind zunehmend Faktoren für Vertreibungskrisen, doch die Länder tun sich schwer, sich auf gemeinsame Massnahmen zur Begrenzung der steigenden Temperaturen zu einigen. Allein in diesem Sommer wurde Nordamerika von Hitzewellen und Waldbränden heimgesucht, während Mitteleuropa und China von schweren Überschwemmungen betroffen waren. Die Folgen dieser Extreme, die immer mehr Teile des Planeten betreffen, werden unweigerlich Auswirkungen auf die Vertreibung von Menschen haben. 

Diejenigen von uns, die das Glück haben, in relativem Wohlstand und Stabilität zu leben, können diese Gaben nicht als selbstverständlich ansehen - der Schock der COVID-19 Pandemie macht dies deutlich. Und diejenigen, die die Flüchtlingskonvention für irrelevant oder lästig halten, könnten eines Tages dankbar für den Schutz sein, den sie ihnen gewährt. 

Es gibt Gründe, positiv zu sein. Gegenwärtig sind 149 Staaten Vertragsparteien der Konvention, was sie zu einem der am meisten unterstützten internationalen Verträge der Welt macht. Wie viele andere Instrumente des Völkerrechts spiegelt sie gemeinsame Werte wie Altruismus, Mitgefühl und Solidarität wider. Wann immer ich Flüchtlinge und die Gemeinschaften, die sie aufnehmen, besuche, treffe ich engagierte Menschen, die diese Werte mit erstaunlicher Grosszügigkeit in die Praxis umsetzen. 

Es mag seltsam erscheinen, so leidenschaftlich über einen UN-Vertrag zu sprechen. Aber die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ist eine Erinnerung an unseren Wunsch und unsere Entschlossenheit, eine bessere Welt zu schaffen. Ihr 70. Jahrestag ist eine Chance für uns, unser Engagement für dieses Ideal neu zu beleben. Lassen Sie uns dieses Versprechen erneuern, nicht brechen. 

Filippo Grandi ist UN-Flüchtlingshochkommissar.