COVID-19: Pandemie als Zerreissprobe für den Flüchtlingsschutz
COVID-19: Pandemie als Zerreissprobe für den Flüchtlingsschutz
Die ergriffenen Massnahmen der Regierungen gegen die Ausbreitung der Pandemie reichen von sehr positiven Ansätzen bis hin zur pauschalen Verweigerung des Asylrechts, was nicht selten zur Rückkehr zu Gefahr und Unsicherheit führt, sagt die stellvertretende UN-Flüchtlingshochkomissarin Gillian Triggs in einer Rede anlässlich der Jahrestagung des UNHCR-Exekutivkomitees in Genf.
„Am Höhepunkt der Pandemie schlossen 168 Länder ihre Grenzen zur Gänze oder zumindest teilweise, wobei etwa 90 Länder keine Ausnahme für Asylsuchende machten, was den Zugang zu internationalem Schutz ernsthaft einschränkte“, erkärt Triggs weiter.
Einige Staaten schickten in dieser Zeit auch Asylsuchende in ihr Herkunftsland zurück und riskierten damit Refoulement, also die Zurückweisung vieler Schutzbedürftiger, während andere zunehmend auf die unverhältnismässige Anwendung von Schubhaft zurückgriffen.
„Besonders schockierend war die Verweigerung Boote anlegen zu lassen, die mit Asylsuchenden im Mittelmeer und im Andamanischen Meer trieben – ganz im Gegensatz zu der maritimen Tradition zur Rettung von Gefährdeten“, betonte Triggs.
Sie warnte auch vor den Bemühungen einiger Länder, ihre Asylverfahren in Drittländer zu „externalisieren“.
„Externalisierung kann darauf hinauslaufen, Asylsuchende auf unbestimmte Zeit an isolierten Orten wie Waren zu lagern, nach dem Prinzip 'aus den Augen, aus dem Sinn', und sie damit Gefahren und Ketten-Abschiebung auszusetzen. Die Abgabe von Verantwortung auf diese Weise stellt eine Bedrohung für das globale Asylsystem dar und sollte in Frage gestellt werden.“
Anderen Staaten gelang es jedoch, trotz der Pandemie den Geflüchteten auf ihrer Suche nach Sicherheit den Zugang zu ihrem Gebiet zu gewährleisten.
„Aktuell haben 113 Länder gezeigt, dass es Wege gibt, um die bestehenden Asylsysteme beizubehalten“, sagte Triggs und fügte hinzu, dass mehr als 100 Länder auch Kreativität bewiesen haben, um Asylanträge zu ermöglichen, indem sie standortunabhängige Technologien bei der Bearbeitung von Anträgen einsetzten.
„UNHCR hat sich klar ausgedrückt: Es ist möglich, sich vor der Pandemie zu schützen und trotzdem den Zugang zu fairen und schnellen Asylverfahren zu gewährleisten. Das eine schliesst das andere nicht aus. Es ist zwar ermutigend zu sehen, dass so viele Länder trotz COVID-19 Platz für Asylsuchende finden, aber wir fordern alle Staaten auf, diesem Beispiel zu folgen und dies ebenso zu tun.“
Zusätzlich zu den Herausforderungen in den Bereichen Gesundheit und Sicherheit bedroht die Pandemie auch die sozialen und wirtschaftlichen Rechte von Vertriebenen, von welchen viele den „Launen der informellen Wirtschaft“ ausgesetzt sind. „Sie gehörten zu den ersten, die die wirtschaftlichen Auswirkungen der Abriegelungen zu spüren bekamen. Viele haben ihre Arbeit verloren, wurden aus ihren Häusern vertrieben, und ihre Kinder sind zum Teil seit vielen Monaten nicht mehr zur Schule gegangen“, sagte Triggs.
Flüchtlinge und Vertriebene waren während der Pandemie auch einem erhöhten Risiko geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt, wobei einige des Überlebens wegen zum Sex oder zur Kinderheirat gezwungen wurden.
„Abriegelungen und erhöhte familiäre Spannungen haben weltweit zu einem Anstieg der geschlechtsspezifischen Gewalt geführt, wobei einige UNHCR-Büros zehnmal so viele Anrufe von Betroffenen erhielten wie üblich.“ Als Reaktion auf die schockierenden globalen Spitzenwerte dieses Phänomens teilte Triggs dem Exekutivausschuss mit, dass UNHCR in Kürze die allererste Richtlinie zu geschlechtsspezifischer Gewalt herausgeben wird.
Die UNHCR-Büros berichteten auch über zunehmende Vorfälle von Diskriminierung, Stigmatisierung oder Fremdenfeindlichkeit gegenüber Flüchtlingen und Vertriebenen, was die Spannungen mit lokalen Gemeinschaften zunehmend verschärft. Der Grad der Verzweiflung unter den Vertriebenen infolge der Pandemie führte auch zu unvorhersehbaren Pendelbewegungen, wobei einige von ihnen das Land verließen und in ihre Herkunftsländer zurückkehrten.
Während die Pandemie das globale Engagement zum Schutz von Vertriebenen auf die Probe stellt, sagte Triggs, dass die Reaktion auf COVID-19 die Bedeutung der im „Globalen Pakt für Flüchtlinge“ verankerten Werte der Solidarität und Integration bei der Bewältigung dieser Herausforderungen bestärkt.
„Das Virus unterscheidet nicht zwischen Rechtsstatus oder Nationalität. Der Zugang zu Gesundheitsdiensten darf nicht von der Staatsbürgerschaft oder den Visabedingungen abhängen“, sagte Triggs. „Eine weitere Lektion, die wir in den letzten Monaten gelernt haben, ist, dass wir wissen, dass die Pandemie uns alle betreffen wird. Wir können Menschen nicht länger aufgrund ihres Rechtsstatus ausschließen. Die Zukunft muss von Inklusion und gemeinsamer Verantwortung getragen sein“, sagte Triggs.
„Der Globale Pakt für Flüchtlinge hat uns eine Vision und die Strategien zur Bewältigung dieser Herausforderungen bereitgestellt.“
Der Pakt wurde 2018 von 181 Staaten vereinbart und fördert das Prinzip der solidarischen Mitverantwortung für den Schutz von Flüchtlingen und Vertriebenen. Mehr als 1.400 Zusagen wurden von Staaten, der Zivilgesellschaft, NGOs, Flüchtlingen, Unternehmen und anderen beim Globalen Flüchtlingsforum im Dezember letzten Jahres gemacht, um den Pakt mit Leben zu füllen.
Da COVID-19 die ohnehin schon knappe Anzahl an Plätzen für Resettlement (Neuansiedlung von Flüchtlingen in Drittstaaten) noch weiter einschränkt und die Aussichten auf freiwillige Rückführungen begrenzt sind, drängte Triggs auch auf mehr internationale Unterstützung für die soziale Inklusion in den Aufnahmeländern, vor allem auch in Sozialsysteme, Bildungssysteme und Arbeitsmärkte.