„Ich bin nah dran an Krisen, die so viel unsägliches Leid hervorbringen“
„Ich bin nah dran an Krisen, die so viel unsägliches Leid hervorbringen“
Könntest Du Dich kurz vorstellen und erzählen, wie du zu UNHCR gekommen bist?
Mein Name ist Sebastian Herwig, ich arbeite für UNHCR in Ägypten im Bereich der Außenbeziehungen. Seit 16 Jahren bin ich nun schon im Bereich der Menschenrechte und humanitären Angelegenheiten tätig. Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf in Nordhessen. Meine Großmutter war selbst Flüchtling im Zweiten Weltkrieg und erzählte mir oft von ihrer Flucht aus dem Sudetenland und wie sie und ihre Familie ein neues Leben aufbauen mussten. Diese Geschichten haben mich tief geprägt und mein Interesse geweckt, zu verstehen, warum Kriege passieren und wie sie das Leben von Menschen, wie meiner Großmutter, so radikal verändern können. Dieses Interesse hat mich letztendlich dazu gebracht, mich den Schicksalen von Flüchtlingen weltweit zu widmen.
Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr in Frankreich, Praktika im Bundestag und in Ungarn und einem Studium in Deutschland, Russland und England, begann ich vor 10 Jahren meine Laufbahn bei UNHCR in Kenia. Es folgten verschiedenen Einsätze in Afrika, die sich mit Flüchtlingen, Rückkehrern, Binnenvertriebenen und Staatenlosen befassten.
Was sind Deine aktuellen Aufgaben und Tätigkeitsbereiche?
Ich arbeite gerade vor allem zur größten neuen Flüchtlingskrise der Welt, nämlich mit den Menschen, die durch den Sudan-Krieg nach Ägypten kommen, auch wenn das in den Medien nicht die entsprechende Aufmerksamkeit findet. Dort stehen andere Krisen im Mittelpunkt.
Ich leite verschiedene Teams und Aufgabenbereiche. Das reicht vom Einwerben von Geldern, die wir für unsere Arbeit benötigen und dem Aufbau von Beziehungen mit Geldgebern, über die Pressearbeit, soziale Medien, unsere Webseiten bis zur Erstellung von Informationsmaterialien und Infografiken für die Öffentlichkeit. Zu der Arbeit gehört auch der enge Austausch mit den großen Botschaften. Dazu zählt insbesondere auch die deutsche Botschaft. Denn Deutschland ist nicht nur einer der wichtigsten humanitären Geber weltweit, sondern unterstützt auch ganz konkret unsere Arbeit im Sudan-Kontext maßgeblich.
Direkt nach Kriegsausbruch im Sudan habe ich auch die erste UN-Mission mit verschiedenen UN-Unterorganisationen an die beiden Grenzpunkte mit dem Sudan geleitet, wo die Flüchtlinge angekommen sind. UNHCR koordiniert die Arbeit aller humanitärer Akteure, inklusive Nichtregierungsorganisationen, die zur Sudan-Krise arbeiten. Vor kurzem haben wir den Besuch vom UN-Generalsekretär Guterres, der vorher UNHCR-Chef war, mitorganisiert.
Was berührt Dich besonders bei Deiner täglichen Arbeit? Kannst Du uns von einer der besten Erfahrungen bei Deiner Arbeit für UNHCR erzählen?
Ich habe vor Kairo in verschiedenen Kriegsgebieten gearbeitet, etwa in Somalia, der Zentralafrikanischen Republik und dem Südsudan.
Am meisten berührt und beeindruckt mich die unglaubliche Widerstandskraft, die ich sehe, obwohl Menschen teilweise alles, oft ihre engsten Familienangehörigen, durch Krieg verloren haben.
2019 habe ich im Nordosten des Südsudan in Malakal gearbeitet. Meine Aufgabe war die Leitung eines Projekts für die Rückkehr von Binnenvertriebenen. Sie mussten 2013 wegen des Krieges in einen Ort („Melut") fliehen. Nun haben sie aber ihre Heimatdörfer (um „Baliet“) in der anderen Ecke des „Bundeslandes" als sicher eingestuft und wollten dort zurückkehren. In gewissen Teilen des Bundeslandes gab es allerdings noch immer Kämpfe; die Lage war generell angespannt. Ich habe das Projekt mit den lokalen Behörden, den Soldatinnen und Soldaten der Friedensmission der UN und den verschiedenen NGOs und UN-Organisationen koordiniert. In diesem Gebiet funktionierten Handys nicht; wir konnten nur über Radio und Satellitentelefon kommunizieren.
Es musste beurteilt werden, ob die Sicherheitsbedingungen objektiv betrachtet eine Rückkehr erlauben, oder ob die Menschen - insbesondere von gewissen Ethnien - dann direkt wieder einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt würden. Letztlich mussten Gelder mobilisiert werden, um den Menschen zu ermöglichen, nach Rückkehr in den zerstörten Dörfern auch Landwirtschaft zu betreiben, um eine Lebensgrundlage zu haben.
Als wir das grüne Licht aus der Hauptstadt Juba bekamen, haben wir die Menschen in ihren Heimatort zurück transportiert. Ich habe den ersten Konvoi selbst angeführt. Über Stunden fuhr ich in einem UN-Geländewagen durch Gestrüpp auf unbefestigten Wegen, wobei ich alte Menschen und Menschen mit Behinderungen im Auto hatte. Schwerbewaffnete Soldaten an den Grenzposten auf dem Weg mussten wir die UN-Papiere zeigen, die von der Regierung bewilligt wurden, um durchgewunken zu werden. Hinter uns folgte ein langer UN-Konvoi, der Tausende von Menschen über mehrere Tage nach Hause brachte.
Als wir in ihrem Heimatort ankamen, den die Menschen über viele Jahre nicht gesehen hatten, haben sie sich vor Freude umschlungen und sind in Freudentränen ausgebrochen. Es wurde getanzt und gesungen. Ich habe selten eine solche kollektive Erleichterung erlebt. Eine ältere Frau sagte mir, sie hätte nie gedacht, dass sie jemals nochmal ihr Dorf wiedersehen würde. Wir haben dort im Auto übernachtet, um dann am nächsten Morgen weitere Konvois durchzuführen.
Was sind für Dich die größten persönlichen Herausforderungen?
Die Sicherheit ist ein Problem. Der Südsudan ist laut offiziellen Rankings einer der gefährlichsten Orte für Mitarbeitende humanitärer Organisationen. Ähnlich gefährlich war es in Somalia. Dort und im Südsudan wohnten wir in Militärbasen. In Mogadischu etwa musste ich mich oft im Bunker in Deckung bringen, weil die Al-Shabaab Miliz die UN beschossen hat.
An vielen Orten musste ich von bewaffneten UN-Blauhelmsoldatinnen und -Soldaten begleitet werden oder musste mit schusssicherer Weste und Helm neben meinem Bett schlafen. In Mogadischu gab es keine Fenster in dem kleinen UN-Baucontainer, in dem ich wohnte, damit das Glas einen bei Mörserangriffen nicht verletzte.
Auch die Lebensumstände sind oft nicht einfach: etwa, wenn man morgens kein laufendes Wasser aus der Dusche, sondern nur einen Eimer zum Waschen hat; wenn es regelmäßige Stromausfälle, aber keine befestigten Straßen gibt; wenn es keine Supermärkte gibt, wo man Zahnpasta kaufen kann, falls man diese beim Packen vergessen hat; und wenn unbeschreibliche Armut etwa in der Zentralafrikanischen Republik allgegenwärtig und alltäglich für einen werden.
Ich schätze mich glücklich, diesen Beruf ausüben zu dürfen und mein Leben dementsprechend zu gestalten. Allerdings kommt es mit einem Preis, dessen man sich bewusst sein muss: Zum einen kann man nie an einem Ort bleiben, da man alle paar Jahre rotieren muss (ähnlich wie Diplomatinnen und Diplomaten der Botschaft). Zum anderen ist das Arbeitspensum unglaublich hoch: Wenn etwa die wöchentliche Pressekonferenz in Genf, im Hauptsitz von UNHCR, jeden Freitag stattfindet, dann muss ich oft Fragen von Journalistinnen und Journalisten beantworten, obwohl dann in muslimischen Ländern wie Ägypten eigentlich Wochenende ist.
Wieso hast Du Dich für die Arbeit bei UNHCR entschieden?
Es war schon früh mein Traum, für die UN zu arbeiten. Die UN ist sicher keine perfekte Organisation. Sie ist auch nicht immer so schnell wirkmächtig, wie man gerne möchte. Trotz alledem bin ich fest davon überzeugt, dass die Welt ohne die UN eine schlechtere wäre.
UNHCR arbeitet für die, die - zumeist durch Krieg - innerhalb oder außerhalb ihres Landes vertrieben sind und Schutz brauchen. Bei UNHCR finde ich es besonders faszinierend, an der Schnittschnelle zwischen Völkerrecht und internationaler Politik einerseits und andererseits direkt mit den Menschen zu arbeiten. Es sind Menschen, die diese Hilfe benötigen, um sich ein neues Leben in einem anderen Land aufzubauen, weil ihr altes zerstört wurde. Sie haben oft alles verloren und kommen in Ländern an, wo sie rechtlich keinen Zugang zu Arbeit bekommen, teilweise in Camps leben müssen und wo ihnen die Bevölkerung nicht immer wohlgesonnen ist.
Was motiviert Dich besonders?
In einer zunehmend gespaltenen Welt, schätze ich es sehr, für eine Organisation wie die UN zu arbeiten. Sie leistet nicht nur konkrete Hilfe für Menschen in Not, sondern tritt auch gegenüber mächtigen Regierungen als einflussreicher Fürsprecher für diejenigen auf, die oft als "Last" angesehen werden und keine Lobby haben.
Für mich ist die UN eine unverzichtbare Stimme der Vernunft in einer Zeit, in der die Welt sie dringender denn je braucht.
Sie fördert die multilaterale Zusammenarbeit, die notwendig ist, um globale Krisen anzugehen. Der Klimawandel ist das beste Beispiel dafür: er wird bald noch viel mehr Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Ich habe in Ländern wie Somalia gesehen, wie Kriege auch dann angeheizt werden, wenn wichtige Ressourcen durch den Klimawandel zu knapp werden.
1951 haben Staaten weltweit Lehren aus dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges gezogen und die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet. Diese ist bis heute als rechtlicher und moralischer Kompass für Flüchtlingsfragen geltend, die eine der größten Zukunftsfragen sein werden. Der letzte UNHCR Jahresbericht zeigte, dass Rekorde gebrochen wurden, die nie hätten gebrochen werden sollen: gerade sind weltweit rund 120 Millionen Menschen auf der Flucht vor Gewalt oder insgesamt rund 1,5 Prozent der gesamten Weltbevölkerung – ein trauriger historischer Höchststand.
Wie gehst Du mit belastenden Situationen um?
Es ist wichtig, strikte Routinen im Alltag einzubauen mit Sachen, die einem gut tun. Für mich ist es unter anderem täglicher Sport. Das habe ich auch in Kriegsgebieten immer durchgezogen. Und dann hilft es mir, gute soziale Netzwerke und alte Freundschaften zu pflegen. Die Unterstützung und den Rückhalt meiner Familie, obwohl und gerade weil ich nicht oft in Deutschland sein kann, ist auch unermesslich.