Eröffnungsrede des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge
Eröffnungsrede des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge
Sehr geehrte Teilnehmer des Globalen Flüchtlingsforums,
Zahlen erzählen keine Geschichten. Aber eine Zahl - 114 Millionen - ist wichtig, um unsere Gespräche zu beginnen: 114 Millionen - das ist die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen, die durch Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen, Gewalt, bewaffnete Konflikte und schwere Unruhen aus ihrer Heimat vertrieben wurden: 114 Millionen zerbrochene Träume, zerstörte Leben, zerschlagene Hoffnungen. Diese Zahl spiegelt eine Krise - in der Tat viele Krisen - der Menschheit wider. Sie steht aber auch für die Grosszügigkeit und Gastfreundschaft der Menschen, die ihre Herzen und Häuser für Flüchtlinge öffnen. Menschen, die oft genauso wenig Mittel haben wie diejenigen, die alles zurücklassen mussten.
Aber unsere Welt ist auch von tiefgreifenden Ungleichheiten, weit verbreiteter Armut und Klimawandel bedroht; Sicherheit ist ein physisches und virtuelles Problem; und COVID-19 hat gezeigt, wie sehr wir Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind. Deshalb vergessen wir manchmal leicht, dass auch Vertreibung ein ungelöstes Problem ist, das uns alle angeht. Und zwar nicht nur, wenn wir Bilder von massiven Flüchtlingsströmen sehen oder wenn Flüchtlinge an unsere Türen klopfen. Wie bei anderen globalen Herausforderungen wird die Lösung durch eine zunehmend gespaltene internationale Gemeinschaft erschwert.
114 Millionen Menschen gewaltsam vertrieben
Deshalb dürfen Flüchtlinge nicht in der Vielzahl anderer Herausforderungen vergessen werden, von denen einige grösser und dringlicher erscheinen mögen: 114Millionen Menschen sind so bedeutend und dringend, wie es nur geht. Aus diesem Grund kommt dieses Globale Flüchtlingsforum zur rechten Zeit, denn es bietet uns allen die Gelegenheit, uns erneut zu einigen grundlegenden Massnahmen zu verpflichten, die für die Bewältigung von Vertreibungen erforderlich sind:
- Schutz der Menschen, die zur Flucht gezwungen sind
- Mitverantwortung für diejenigen, die sie aufnehmen
- ermöglichen, dass Flüchtlinge einen Beitrag zu den Gemeinschaften und Nationen leisten können, die ihnen Zuflucht gewähren
- mehr Bemühungen, um eine Lösung für ihr Exil zu finden
- die Ursachen ihrer Flucht zu bekämpfen.
Freilassung der Geiseln und Feuerpause in Gaza!
Im Gazastreifen bahnt sich eine grosse menschliche Katastrophe an und der Sicherheitsrat hat es bisher versäumt, der Gewalt Einhalt zu gebieten. Die Ereignisse, die sich seit dem 7. Oktober in Israel und Gaza ereignet haben, liegen ausserhalb des Mandats von UNHCR. Tragischerweise sehen wir jedoch weitere zivile Todesopfer und Leiden sowie weitere Vertreibungen voraus, die die Region bedrohen. Ich kann das Globale Flüchtlingsforum nicht eröffnen, ohne zunächst den Aufruf des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu einem sofortigen und dauerhaften humanitären Waffenstillstand, zur Freilassung der Geiseln und zur Wiederaufnahme eines echten Dialogs zu wiederholen, der den Konflikt ein für alle Mal beendet und den Menschen in Israel und Palästina echten Frieden und Sicherheit bringt. Ich habe meinen Kollegen und Freund Philippe Lazzarini, den Generalkommissar des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA), eingeladen, heute Nachmittag aus der Sicht des Hilfswerks zu sprechen, das mit der Unterstützung von palästinensischen Flüchtlingen beauftragt ist und sich daher am stärksten für die humanitäre Hilfe in Gaza engagiert.
Andere Krisen nicht aus den Augen verlieren
Auch wenn der Gazastreifen weiterhin im Mittelpunkt steht und stehen muss, möchte ich Sie bitten, andere dringende humanitäre und Flüchtlingssituationen nicht aus den Augen zu verlieren. Die Lage der Zivilbevölkerung im Sudan und in der Ukraine, darunter Millionen von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, erfordert unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung. Das gilt auch für langanhaltende Krisen wie die Notlage der Rohingya, die Lage in Syrien, Afghanistan, die anhaltenden Kämpfe in der DR Kongo, die wachsende Unsicherheit in der Sahelzone, die dramatischen Bevölkerungsströme auf dem amerikanischen Kontinent, im Mittelmeer und im Golf von Bengalen und viele andere.
Die meisten dieser Krisen dauern bekanntlich an, weil die Konfliktparteien und die einflussreichen Staaten nicht in der Lage sind, politische Lösungen für die Konflikte zu finden und Frieden zu schliessen, was zunehmend mit dem Klimawandel und anderen Notlagen einhergeht.
All dies führt dazu, dass die Menschen schrecklicher Not, Menschenrechtsverletzungen und Vertreibung ausgesetzt sind. In diesen Situationen dürfen wir daher - mindestens - unsere grundlegende Verpflichtung gegenüber der Menschlichkeit nicht vernachlässigen und müssen Schutz und grundlegende humanitäre Hilfe gewähren.
Es fehlen 400 Millionen: UNHCR unterfinanziert
Ich wäre nachlässig, wenn ich nicht erwähnen würde, dass viele humanitäre Organisationen vor grossen Finanzierungsproblemen stehen: Allein UNHCR fehlen 400 Millionen Dollar, um das Jahr mit dem Minimum an benötigten Geldern zu beenden, ein Defizit, das wir seit Jahren nicht mehr erlebt haben; und wir alle blicken mit grosser Sorge auf das Jahr 2024. Lassen Sie mich diesen Moment und die Anwesenheit vieler grosszügiger Spender nutzen, um Sie eindringlich zu bitten, Ihre finanzielle Unterstützung zu verstärken. Denn der Zustand der Welt ist leider so, dass wir - Sie - starke humanitäre Organisationen brauchen.
Als wir vor vier Jahren das erste Globale Flüchtlingsforum beendeten, sagte ich, dass wir "die Voraussetzungen für einen Erfolg" hätten. Heute haben sich diese "Voraussetzungen" in einen Motor verwandelt, der uns viel weiter bringen kann, dank der gemeinsamen Anstrengungen so vieler hier in diesem Raum und darüber hinaus - Staaten natürlich, aber auch nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen, lokale und von Flüchtlingen geleitete Organisationen. Und die Flüchtlinge selbst, einschliesslich der mehr als 300, die an diesem Forum teilnehmen. Aber auch Sportgremien, internationale Finanzinstitutionen, Glaubensführer, Akademiker, Privatunternehmen und Bürger, die alle ihren Beitrag geleistet haben, in dem positiven, "gesamtgesellschaftlichen" Geist, der ein Markenzeichen des Globalen Pakts für Flüchtlinge ist. Hierfür möchte ich Ihnen danken.
Und lassen Sie mich unserem Mitgastgeber, der Schweiz, für ihre starke Unterstützung danken. Ich möchte natürlich auch den Mitveranstaltern - Kolumbien, Frankreich, Japan, Jordanien und Uganda - für ihre Führungsrolle, ihre Leitung und ihren Fleiss bei der Vorbereitung dieses Forums danken, aber noch mehr für ihre unerschütterliche Solidarität mit den Flüchtlingen über viele Jahre hinweg, sei es als Aufnahmeland oder Geber.
Ich wäre nachlässig, wenn ich Ihnen, Eure Majestät [König Abdullah II. von Jordanien], nicht nur dafür danken würde, dass Sie uns heute mit Ihrer Anwesenheit und Ihrer bevorstehenden Grundsatzrede beehren, sondern auch für die langjährige Gastfreundschaft des Haschemitischen Königreichs gegenüber Flüchtlingen, die ich seit vielen Jahren in meinem eigenen Dienst bei UNRWA und in meiner jetzigen Funktion miterleben und bewundern durfte. Nicht nur die Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien in den letzten Jahrzehnten, sondern auch die Palästina-Flüchtlinge seit 1948.
Engagement der Aufnahmeländer enorm
Es ist kein Zufall, dass Jordanien, Kolumbien und Uganda zu den Mitveranstaltern gehören. Sie repräsentieren wichtige Aufnahmeländer, die manchmal jahrzehntelang, oft mit wenig Hilfe, Flüchtlinge aufnahmen, sie schützten und unterstützen. In der Präambel der Flüchtlingskonvention von 1951 wird ausdrücklich zur internationalen Zusammenarbeit aufgerufen, um - ich zitiere - "unangemessen schwere Lasten" zu verringern, die durch "die Gewährung von Asyl" entstehen. Eine meiner wichtigsten Botschaften an Sie lautet: Wir können die Rolle, die die Aufnahmeländer und -gemeinschaften bei der Rettung von Menschenleben spielen, nicht hoch genug einschätzen, und wir dürfen nie vergessen, welchen Preis sie - in unser aller Namen - bei der Erbringung dieses globalen öffentlichen Gutes zahlen.
Der Globale Pakt für Flüchtlinge, der 2018 von den Vereinten Nationen bekräftigt wurde und die Grundlage für dieses Forum bildet, wurde genau mit dem Ziel entwickelt, eine grössere Lasten- und Verantwortungsteilung in Flüchtlingsfragen zu erreichen.
Abschottung statt Solidarität
Allerdings haben wir mancherorts Massnahmen gesehen, die genau auf das Gegenteil abzielen, indem sie internationales Recht verletzen oder Flüchtlinge zurückdrängen, rechtliche oder physische Mauern errichten oder Verantwortlichkeiten auslagern. Eine Politik, die im Übrigen sowohl falsch als auch ineffektiv ist. Und wir können die Tatsache nicht beschönigen, dass viele der am meisten gefährdeten Flüchtlinge und Aufnahmeländer und -gemeinschaften nicht die Unterstützung erhalten haben, die sie benötigen und verdienen.
Aber es ist wichtig, anzuerkennen, dass wir trotz aller Herausforderungen in der Tat viele Fortschritte gemacht haben; Fortschritte, die durch Zusammenarbeit erreicht wurden.
Fortschritte, die durch grosse multilaterale Verpflichtungen sowie regionale Initiativen wie die der drei (und bald vier) regionalen Unterstützungsplattformen erzielt wurden. Fortschritte auch in unzähligen anderen Initiativen von Menschen, die entschlossen sind, das Leben von Flüchtlingen und ihren Gastgebern zu verbessern. Fortschritte bei der Förderung der Eigenständigkeit von Flüchtlingen, bei der Verringerung der Abhängigkeit von Hilfsleistungen, bei der Suche nach Lösungen in Drittländern und bei der Verbesserung der Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr durch mehr als 1.700 Zusagen von rund 130 Staaten und 550 nichtstaatlichen Einrichtungen im ersten Forum.
Solidarität – auch aus Eigeninteresse
Der Fortschritt wurde von den Gebern gefördert, die verstanden haben, wie wichtig es ist, diese Bemühungen zu unterstützen, indem sie helfen, die nationalen Dienste in den Aufnahmeländern zu stärken, Infrastrukturen und Beschäftigungsmöglichkeiten zu finanzieren, was sowohl die Selbstständigkeit der Flüchtlinge als auch das Wirtschaftsprodukt des Aufnahmelandes steigern und gleichzeitig die Kosten für die Integration in die nationalen Dienste senken kann.
Wir dürfen jedoch die Grosszügigkeit der Aufnahmeländer nicht als selbstverständlich ansehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Flüchtlinge - 75 Prozent, um genau zu sein - von Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen aufgenommen werden, die oft schon selbst Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Bürger zu versorgen und für sie zu sorgen.
Aus diesem Grund ist die internationale Unterstützung so wichtig und muss verstärkt werden.
Ich möchte der Weltbank dafür danken, dass sie in dieser Hinsicht weiterhin eine führende Rolle spielt und ein echter Partner von UNHCR und der Aufnahmeländer für Flüchtlinge ist. Aber auch andere - wie die regionalen Entwicklungsbanken in Afrika, Asien, dem Nahen Osten und Amerika - haben viel getan. Ebenso wie bilaterale Geber wie Japan und Frankreich, die sich hier selbst vertreten, und viele andere engagierte Geber. Und ich möchte an andere Länder mit Ressourcen appellieren, sich ihnen anzuschliessen. Neben der humanitären Hilfe wurden in den vergangenen Jahren Milliarden von Dollar an Entwicklungshilfe für die Aufnahmeländer und -gemeinden von Flüchtlingen bereitgestellt - Geld, das ohne den Pakt und die entschlossene Arbeit so vieler von Ihnen nicht zur Verfügung gestanden hätte.
Die Wirtschaft als wichtiger Partner
Der Privatsektor ist ebenfalls zu einem wichtigen Partner geworden, nicht nur durch philanthropische Beiträge, die im letzten Jahr 20 Prozent der UNHCR-Gelder ausmachten, sondern auch durch die Art und Weise, wie er sein eigenes Fachwissen in die Flüchtlingshilfe eingebracht hat: mit dringend benötigten Ressourcen, Innovation, Mentorenschaft, Beschäftigung, seiner eigenen Stimme und vielem mehr.
Es gibt auch mehr Wege in Drittländer, also nicht die Erstaufnahmeländer. Die Härtefallaufnahme (Resettlement) wurde ausgeweitet und es gibt mehr sichere Zugangswege in andere Länder: Stipendien, Arbeitsvisa und andere lebensverändernde Möglichkeiten, die den Flüchtlingen helfen und ein klarer Beweis für die Aufteilung von Lasten und Verantwortung sind. Ein Weg, der fortgesetzt und deutlich ausgeweitet werden muss.
Was Flüchtlinge vor allem wollen: Keine Flüchtlinge sein!
Nicht zuletzt hat UNHCR in den letzten vier Jahren darauf gedrängt, dass in den Herkunftsländern der Flüchtlinge mehr getan wird. An einigen Orten, an denen die politischen Fortschritte begrenzt waren, hat dies zu schwierigen Diskussionen mit einigen unserer Interessengruppen geführt. Ich habe Verständnis für die unterschiedlichen Standpunkte, die in diesem oft heiklen Prozess eine Rolle spielen. Dennoch werden wir uns weiterhin für Lösungen einsetzen. Nicht nur, weil dies Teil des Mandats ist, mit dem die Staaten UNHCR beauftragt haben. Nicht nur, weil es ein Pfeiler des Globalen Paktes für Flüchtlinge ist. Nicht nur, weil die Aufnahmeländer mit Nachdruck Fortschritte in diesem Bereich fordern. Sondern weil der grösste Wunsch fast aller Flüchtlinge darin besteht, freiwillig, in Sicherheit und in Würde nach Hause zu gehen.
Aber die Realität ist, dass wir - dass Sie, die Staaten - einfach nicht genug tun, um die Hindernisse für die Rückkehr zu beseitigen, die auch die Wurzeln für weitere Vertreibung sind. Um dies zu erreichen, muss mehr für den Frieden getan werden. Denn die Fähigkeiten von humanitären Organisationen wie UNHCR und vielen andere, die hier vertreten sind, sind begrenzt, wenn Konflikte, Gewalt und Verfolgung weiter bestehen.
Sehr geehrte Damen und Herren, in dieser Woche begehen wir den 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Ich halte es für angebracht, heute daran zu erinnern, dass es keine Flüchtlinge gäbe, wenn ihr dritter Artikel immer und überall eingehalten würde - ich zitiere: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.
In diesen unruhigen Zeiten und inmitten so vieler Spaltungen möchte ich daher nachdrücklich an Sie appellieren: Lassen Sie uns dieses Globale Flüchtlingsforum zu einem Moment der Einheit machen, in dem wir alle unsere Kräfte bündeln, um sicherzustellen, dass diejenigen, die fliehen, weil ihr Leben, ihre Freiheit und ihre Sicherheit bedroht sind, Schutz finden können, und dass alles getan wird, um ihr Exil so schnell wie möglich zu beenden.
Ich danke Ihnen.