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Von Lesbos nach Deutschland: Für Rugiya und ihr Kind beginnt ein neuer Lebensabschnitt

Medienmitteilungen

Von Lesbos nach Deutschland: Für Rugiya und ihr Kind beginnt ein neuer Lebensabschnitt

7 Juli 2021

Rugiya schaut alle fünf Minuten auf ihr Telefon. Ihre Kinder haben versprochen, ihr Fotos vom sonntäglichen Mittagessen zu schicken, das die Großmutter zubereitet. Ein Salat mit Karotten und Joghurt sowie Makrele mit scharfer Paprika – Ruqiyas Lieblingsessen.

Sie wird allerdings nicht am Tisch mit ihnen sitzen können.

Seit zwei Jahren ist die 40 Jahre alte Somalierin auf Lesbos in Griechenland, tausende Kilometer entfernt der Heimat, aus der sie fliehen musste. Sie hat nur eines ihrer neun Kinder bei sich, den zwölfjährigen Abdirahman, der unruhig ist und ständig mit seinen Fingern Kreise und Rechtecke auf dem Holztisch nachzeichnet.

„Mein Sohn leidet unter einer schweren Form von Epilepsie. Wir haben kein Geld und in Somalia gab es für meinen Sohn keine Perspektive. Ich hoffe, dass Ärzte in Deutschland ihm helfen können. Seine Krankheit kann vielleicht nicht geheilt werden, aber sein Zustand kann sich verbessern und damit auch seine Lebensqualität“, sagte Ruqiya, die sich mit ihrem Sohn auf die Ausreise nach Deutschland im Rahmen des Relocation-Programms für schutzbedürftige Asylsuchende und Flüchtlinge aus Griechenland in andere europäische Länder vorbereitet.

„Armut und Perspektivlosigkeit sind eine Seite der Medaille“, sagt sie über ihr Heimatland. „Die andere, viel dunklere Seite beinhaltet Terrorismus und Angst“, fügt sie hinzu.

Rugiyas Familie hat diese Angst Mitte 2018 hautnah erfahren, als Extremisten anfingen, ihre Familie zu bedrohen.

„Ich war besorgt um unsere Sicherheit. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mein Mann hat sich mit einem unserer Söhne versteckt. Mit voranschreitender Zeit hatte ich Angst, dass sie wieder an unsere Tür klopfen und mich zwingen würden, einige meiner Kinder in ihre Hände zu geben“, erinnert sich die 40 Jahre alte Mutter. „Das war der Punkt, an dem ich beschlossen habe, mit meinem Sohn das Land zu verlassen. Ich habe das verletzlichste Kind ausgesucht, meinen kranken Sohn. Natürlich war das schmerzlich, weil ich die acht anderen Kinder und meinen Mann zurücklassen musste.“

Ruqiya bat ihre Mutter, auf die anderen sieben Kinder aufzupassen, in der Annahme, dass sie bei ihr in Sicherheit seien.

„Es ist sehr schwierig, fernab der Heimat zu leben, weit weg von den Menschen, die man liebt. Nachrichten, Fotos und Telefonate füllen diese Leere nicht. Ich vermisse sie sehr“, sagt Ruqiya.

Sie hat ihren Mann, ihre Mutter und ihre weiteren Kinder seit 2018 nicht mehr gesehen. Mutter und Sohn kamen im September 2019 auf Lesbos an, wo sie für sechs Monate im Aufnahmezentrum in Moria lebten. Ihre Zeit im überfüllten Camp war alles andere als einfach. Zusätzlich zu den schwierigen Sicherheits- und Hygienebedingungen mussten sie sich ein Zelt mit einer anderen vierköpfigen Familie teilen.

Auch wenn die Familien sich gut verstanden, war das Zusammenleben auf engstem Raum kompliziert, auch weil es Abdirahman schwer fiel, sich an die engen Lebensverhältnisse zu gewöhnen. Er wachte oft mitten in der Nacht auf und machte Geräusche, um die anderen zwei Kinder im Zelt zu wecken und mit ihnen zu spielen.

Als alleinstehendes Elternteil und aufgrund ihres besonderen Schutzbedarfs wurden Ruqiya und ihr Sohn schließlich im Zuge des ESTIA-Programms, das von dem zivilgesellschaftlichen Akteur "Iliaktida" umgesetzt wird, in eine Wohnung in Mytilene, der Hauptstadt von Lesbos, verlegt.

Mit der näherrückenden Relocation ist sich Ruqiya auch der Anpassungsschwierigkeiten bewusst, die ihr und ihrem Sohn bevorstehen. Aber sie ist fest entschlossen, schnell Fuß zu fassen.

„Ich werde am Anfang auf Hilfe angewiesen sein. Ich bin es allerdings nicht gewohnt, herumzusitzen, nichts zu tun und auf Kosten anderer zu leben. Ich bin es gewohnt, zu arbeiten und meine Familie zu unterstützen. Das werde ich auch in Deutschland tun. Ich werde einen Job finden, sobald ich jemanden habe, der sich um meinen Sohn kümmern kann“, sagt Ruqiya.

Das unerwartete Geräusch des Telefons überrascht Ruqiya und zaubert ihr ein Lächeln aufs Gesicht. Sie bekommt Fotos aus Mogadischu, auf denen ihre sieben Kinder mit der Großmutter beim Mittagessen zu sehen sind. Vier Mädchen und drei Jungen auf einem fernen Kontinent, die leckeres Essen genießen, lachen, sich umarmen, ihrer Mutter und ihrem Bruder viele Küsse und Wünsche für ihre baldige Relocation schicken.

* Ruqiya und ihr zwölfjähriger Sohn Abdirahman kamen am 30. Juni 2021 im Rahmen des vom griechischen Ministerium für Migration und Asyl koordinierten Relocation-Programms mit Mitteln der Europäischen Union und Unterstützung von UNHCR, dem UN-Flüchtlingshilfswerk, IOM, der Internationalen Organisation für Migration, und UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, in Deutschland an. Sie zählen zu den jüngst Angekommenen von insgesamt 4.026 schutzbedürftigen Asylsuchenden und Flüchtlingen, darunter auch unbegleitete Kinder, die seit Beginn des Programms im April 2020 von Griechenland in andere europäische Länder umgesiedelt wurden.