Ein gemeinsamer Garten
Ein gemeinsamer Garten
Familiengärten sind in Yverdon-les-Bains eine Institution. Die etwa 500 kleinen Parzellen, welche die Stadt den Einwohnern zur Verfügung stellt, sind Thema zahlreicher Presseartikel. Sogar ein Dokumentarfilm wurde bereits gedreht. Für die Gärtner aus der Stadt stehen sie für Naturverbundenheit und das dörfliche Leben mit seinen guten und schlechten Seiten. In den Gärten, die 1940 im Rahmen eines nationalen Plans für die Selbstversorgung mit Lebensmitteln gegründet wurden, wehen mittlerweile nicht mehr nur Schweizer Flaggen. Familien, die mit den Migrationswellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem aus Südeuropa und dem Balkan nach Yverdon kamen, bewirtschaften heute einen Teil der Anlage und zeigen Flagge. Mittlerweile weht hier sogar eine tibetische Gebetsfahne.
Die Girlande aus bunten Stoffen hängt in einem der acht vom Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS) bewirtschafteten Gärten in der Westschweiz. Der Garten in Yverdon ist in verschiedene Bereiche aufgeteilt, die im Frühjahr im Rahmen des Programms „Neue Gärten“ Gruppen von Hobbygärtnern zugewiesen werden. Mitglied jeder Gruppe sind mindestens ein Flüchtling und ein Einwohner der Region. Die Gruppe trifft sich mindestens einmal in der Woche, um die Parzelle zu bearbeiten. Bei den monatlich stattfindenden „Gartenateliers“ trifft sich das gesamte Team vor Ort. Eine Betreuerin von HEKS ist dann ebenfalls anwesend, um über Neues im Programm zu berichten und Gartenbautipps zu geben.
„Ich musste meine Technik anpassen und manche Dinge neu lernen.“
Lodoe, 55, Flüchtling aus Tibet, nimmt am HEKS-Programm „Neue Gärten“ teil.
Lodoe, 55, ist einer der „frischgebackenen Gärtner“. Er ist es auch, der hier die Gebetsfahne mit den fünf Elementen aufgehängt hat, „damit sie der Region Frieden bringe“. In Tibet baute er Gerste und Weizen an. Heute lebt er als Flüchtling in der Schweiz und teilt sein Wissen mit den anderen Mitgliedern seiner Gruppe, Daisy, 47, aus Yverdon und Karim, 54, aus dem Irak. „Der Boden und die Höhenverhältnisse sind anders“, erklärt Lodoe. „Ich musste meine Technik anpassen und manche Dinge neu lernen.“ Der Wissensaustausch in der Gruppe ist eine der Zielsetzungen vom HEKS.
Daisy ist zum Programm gekommen, weil sie gerne Tomaten züchten wollte. Sie bereut ihre Entscheidung nicht: „Diese Erfahrung bringt mir letztlich so viel mehr als Tomaten.“ Weil Karim noch nicht so gut Französisch spricht, sucht sie nach anderen Möglichkeiten, mit ihm zu kommunizieren. „Man muss das, was man sagen will, ausdrücken, ohne den anderen wie ein Kind zu behandeln. Dafür musste ich eine neue Perspektive einnehmen und raus aus meiner Komfortzone.“ Karim, der einen Bund frische Minze in der Hand hält, nickt: „Daisy ist ein wenig meine Französischlehrerin geworden. Ich komme vor allem gerne hierher, um Gespräche zu führen und mich mit meinen Freunden auszutauschen.“
Gemüse anzubauen ist für viele der städtischen Gärtner aber auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. In der Schweiz leben über 85 Prozent der Flüchtlinge und Asylbewerber von Sozialleistungen. Diese liegen bei 986 Franken im Monat für eine Einzelperson und bei 2’110 Franken für eine vierköpfige Familie. Das HEKS ist sich bewusst, wie wenig das ist, und spricht daher vor allem Flüchtlinge und Migranten an, die in prekären Verhältnissen leben. „Der Anbau eigener Lebensmittel ermöglicht es Familien, sich gesund zu ernähren, ohne über ihre Verhältnisse zu leben“, erklärt die Organisation.
„Auf ihrem Migrationsweg haben Flüchtlinge manchmal das Gefühl, nur eine Nummer zu sein oder wie Kinder behandelt zu werden. Verantwortung für einen Garten zu übernehmen hilft ihnen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken.“
Clea Rupp, HEKS-Mitarbeiterin, leitet die Gartenateliers in Yverdon-les-Bains.
Shafighe ist aus Lausanne nach Yverdon gekommen, um sich um ihre Parzelle zu kümmern. Die 44-jährige Afghanin, Mutter zweier Kinder, hat zu Hause nur einen kleinen Balkon. „Der reicht für Blumen, aber nicht für Gemüse“, sagt sie. Sie hat über ihre Sozialarbeiterin von den „Neuen Gärten“ erfahren. Seit März gräbt sie die Beete im Tandem mit Claudia um, einer 49-Jährigen aus Yverdon, die schon als Kind mit ihren Eltern eine Parzelle pflegte. Die beiden Frauen diskutieren über das, was sie derzeit am meisten beschäftigt: die Ernte. Sie sprechen über Zucchetti, Erbsen und die kürzlich gepflückten Kürbisse. „Aber das geht alles so schnell!“, bedauert Claudia. „Man müsste eigentlich jeden Tag kommen. Und sei es nur, um nach Schnecken Ausschau zu halten!“
Das Selbstvertrauen zu stärken und die eigenen Kompetenzen zu nutzen sind zentrale Zielsetzungen des Projekts, erklärt Clea Rupp, welche die Gartenateliers leitet. „Auf ihrem Migrationsweg haben Flüchtlinge manchmal das Gefühl, nur eine Nummer zu sein oder wie Kinder behandelt zu werden. Verantwortung für einen Garten zu übernehmen hilft ihnen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken.“ Gartenarbeit ist ausserdem gut für die physische und psychische Gesundheit, gibt die HEKS-Mitarbeiterin zu bedenken.
Fateme, 19, bildet ein Tandem mit Angéline, 25. Die junge Afghanin, die im November 2015 mit ihrer Schwester in die Schweiz kam, besucht seit kurzem die Kantonsschule Yverdon und spricht hervorragend Französisch. Sie wollte aber mehr junge Leute aus der Region kennenlernen. Das ist ihr dank des Programms gelungen: „Angéline, meine Schwester, ihre Tandempartnerin Mathilde und ich unternehmen öfter etwas zusammen. Letztes Wochenende waren wir zu viert bei einem Konzert in Romainmôtier.“
Der Garten ermöglicht auch das Eintauchen in die Schweizer Kultur. Wenn sich die Gärtner über die Pflege der Gärten im Winter unterhalten, kommt bei einigen die Frage nach dem Spielraum in den doch sehr begrenzten Beeten auf. „Entspricht es den Regeln, Spinat oder Bienenweide anzubauen, damit sich der Boden erholt?“, fragt eine Teilnehmerin mit einer Spur Ironie. Beim Brüten über Grundsatzfragen und beim Umgraben dieses neuen Landes, das man ihnen gegeben hat, füllen die Flüchtlinge nicht nur ihren Korb mit Gemüse: Sie lernen auch einiges über das Leben vor Ort und die Bräuche, die hier herrschen – ganz natürlich, im Rhythmus der Jahreszeiten und nach den Gepflogenheiten der guten Nachbarschaft.