Sicherheit bei neuen Freunden
Sicherheit bei neuen Freunden
Es war morgens um fünf und Irina stillte gerade völlig verschlafen ihren kleinen Sohn, als eine ohrenbetäubende Detonation sie zu Tode erschreckte. Sekunden später stürzte ihr Mann ins Zimmer und schrie: „Steh‘ auf! Sie bombardieren uns!“ Das war vor einem Jahr, der erste Tag des Krieges, als Russland die Ukraine überfiel. Heute leben Irina und ihre beiden Kinder mit ihrer Freundin Nadja und deren beiden Kindern in Deutschland, in Berlin. In Sicherheit. Freundliche Menschen haben ihnen geholfen und sie viel mehr unterstützt, als es beide Frauen je erwartet hätten. Sie haben Schutz gefunden – und weinen doch immer wieder.
„Ich war so aufgeregt und hatte solche Angst. Vor allem um die Kinder“
Wie betäubt, wie im Schock griff Irina hastig die wichtigsten Sachen – bloß die Windeln nicht vergessen! – und stürzte zum Auto. Die Kinder weinten und hatten Angst. An diesem Tag, sagt Irina, seien ihre Kinder um Jahre gealtert. Zuerst ging die Fahrt zu den Eltern ihres Mannes. „Ein Dorf, militärisch völlig unwichtig. Wir dachten, dass wir da in Sicherheit sind.“ Doch der Krieg rollte gnadenlos auf sie zu. „Bald war uns klar, dass wir nicht in Sicherheit sind. Die Alten wollten nicht gehen, ich eigentlich auch nicht. Aber wir hatten alle Angst um die Kinder.“ Ihr kommen die Tränen, das blöde Tempo will nicht aus der Packung, schließlich wischt sie sich die Tränen ab und zeigt gleich wieder Stärke: „Wir mussten Abschied nehmen. Aber es war so schwer.“
Irina und ihre Tochter Maria, 8, und ihr Sohn Makar, 1, machten sich auf den Weg, zusammen mit ihrer Freundin Nadjeschda und deren Töchtern Sofia, 7, und Katia, 2. Das kleinere Kind jeweils auf dem Arm, in der anderen Hand einen Koffer, immer den wachsamen Blick auf das andere Kind. Eiskalt ist es, aber viel schwerer ist der Abschied von den anderen, den Eltern und Schwiegereltern. Und den Ehemännern. Für wie lange? Keiner weiß es.
Ein Zug bringt die beiden jungen Frauen und die vier Kinder nach Lwiw, das früher Lemberg hieß. Auf dem Bahnhof passiert es: Ein Mann hebt für sie den kleinen Makar aus dem Zug und plötzlich ist der Eineinhalbjährige weg. „Ich war völlig übermüdet, aber da war ich plötzlich hellwach“, sagt Irina. „Und voller Panik.“ Nach Minuten der Angst ist der Kleine wieder da, alles in Ordnung. Nein, eigentlich nichts in Ordnung. Aber beide Mütter haben ihre Kinder und sind entschlossen, sie in Sicherheit zu bringen.
Ein Verwandter bringt sie zur Grenze. Dort harren sie in Eiseskälte aus, aber sie beschweren sich nicht. Und sind voll des Lobes über die Hilfsbereitschaft der Polen. „Alles war gut organisiert, weil so viele Menschen geholfen haben“, sagt Nadjeschda. „Wir bekamen einen Platz in einem umgerüsteten Einkaufszentrum. Da war es warm, es gab zu essen und Spielsachen für die Kinder. Der kleine Elefant, den meine Tochter bekam, begleitet sie bis heute überall hin.“ Ein altes polnisches Paar – „Sie waren so wunderbare Menschen, wie Heilige“, sagt Irina – nimmt sie auf. Zum ersten Mal haben die beiden Frauen Zeit, durchzuatmen. Und nachzudenken. „Es waren so unterschiedliche Gefühle“, sagt Nadjeschda.
„Erleichterung. Trauer. Vor allem Unsicherheit. Wir wussten ja nicht, was passiert.“
Entfernte Verwandte leben in Deutschland, also besteigen die sechs in Warschau einen Zug nach Berlin. „Chauptbaaahnhoof“ ist eines der wenigen deutschen Worte, doch das Berlin, wo sie aussteigen, ist zwar Berlin, aber erst der Bahnhof Ostkreuz. Da stehen sie nun, ohne ein Wort Deutsch, dafür mit weinenden Kindern mit 39 Grad Fieber. „Aber da waren sofort Freiwillige, die sich um uns gekümmert haben. Die waren alle so nett“, sagt Irina. Dass Berliner nicht in dem Ruf stehen, es mit Freundlichkeit zu übertreiben, können die beiden nicht nachvollziehen. „Alle waren gut zu uns. Alle haben geholfen. Und wenn man uns heute Ukrainisch sprechen hört, lächeln viele uns immer noch an.“
Nadjeschda und Irina hatten das Glück, an Alexandra zu geraten. Die junge Frau spricht nicht nur Russisch, sondern engagiert sich auch im Willkommensbündnis Steglitz-Zehlendorf. Sie nimmt alle sechs die ersten Tage auf und lässt sie sogar allein in ihrer Wohnung. „So viel Vertrauen!“, sagt Nadjeschda. „Wir waren doch fremde Leute. Aber sie haben uns einfach vertraut.“
Das Willkommensbündnis vermittelt die beiden Frauen und ihre vier Kinder an Barbara und Jörg. Deren Kinder sind schon aus dem Haus und sie haben Platz. „Wir waren schockiert von dem Krieg und wollten helfen“, sagt Barbara. „Mein Mann und ich haben deshalb sofort gesagt, dass wir Menschen, die alles verloren haben, ein Obdach geben wollen.“
Also ziehen die beiden Familien bei der einen Familie ein und machen fortan einiges gemeinsam. Zumindest Behördengänge und Schulanmeldungen, die Suche nach einem Kindergartenplatz und die Registrierung als Flüchtlinge. „Das war anstrengend, aber das ahnten wir vorher“, sagt Jörg. „Aber ehrlich gesagt war ich überrascht, wie gut das in dieser Notsituation organisiert war.“ Kleines Lächeln. „Hätte ich Berlin gar nicht zugetraut.“
Aber natürlich war nicht immer alles einfach. „Ich habe versucht, Russisch zu lernen. Ich habe es aber bald aufgegeben“, sagt Barbara fast entschuldigend. Also wird meistens mit Übersetzungs-Apps des Telefons übersetzt. Das geht, ist aber nicht gerade einfach. Trotzdem funktioniert das Leben, trotzdem klappt irgendwie alles; wenn nicht beim ersten, dann beim zweiten Mal. Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deshalb, haben die acht Menschen viel Spaß. Würden Sie es wieder machen, Barbara und Jörg? „Aber natürlich“, antworten beide ohne lange nachzudenken.
„Es ist doch schön, zu helfen“
Möchten Nadjeschda und Irina zurück? „Ja, natürlich“, sagen beide. „Unsere Lieben sind noch in der Ukraine und so wunderbar Berlin ist, so freundlich die Menschen sind – es ist nicht zu Hause.“ Aber so lange es ständig Bombenangriffe und Raketenbeschuss gibt, gehe es nicht. „So viel ist zerstört, sogar die Schulen. Es gibt keine Kindheit im Krieg“, sagt Irina. Nadjeschda erinnert sich noch, wie ihre Tochter am ersten Tag des Krieges fragte: „Mama, werden wir sterben.“ Sie wischt eine Träne weg. „Ständig sterben Menschen, auch Kinder. Ständig dröhnen die Sirenen, das macht einen fertig. Derzeit ist kein Platz für Kinder in der Ukraine.“
In Berlin, in Deutschland schon. „Dieses Land“, sagt Alexandra, die Helferin, und sucht nach Worten, „dieses Land, bei aller Kritik, hat Herz. So viele Menschen haben so selbstlos geholfen, dass es mich wirklich berührt hat. Das gibt auch uns Helfern so viel Kraft.“ Ohne die Hilfe aus der Zivilgesellschaft, den Freiwilligen an den Bahnhöfen, ohne all die Barbaras und Jörgs überall in Deutschland hätten es die Behörden nicht geschafft, so vielen Menschen eine menschenwürdige Zuflucht und Versorgung zu bieten, sagt sie. „Ja, ich bin stolz auf diese Menschen und dieses Land. Wir haben Herz bewiesen.“