Der Schmetterling im Rollstuhl – eine geflüchtete Frau in Jordanien geht ihren Weg gegen alle Widerstände
Der Schmetterling im Rollstuhl – eine geflüchtete Frau in Jordanien geht ihren Weg gegen alle Widerstände
Von Roland Schönbauer in Irbid, Jordanien
„Ich konnte nicht akzeptieren, was mir passiert ist“, sagt Samaher Samour, wenn sie an den Unfall denkt, der ihr Leben verändert hat. „Ich habe den ganzen Tag nur geweint.“ An jenem verhängnisvollen Tag war die damals 15-jährige im Schulstress aufs Flachdach des elterlichen Hauses in Daraa-Stadt in Syrien gegangen, um sich zu entspannen. „Ich sah das bei den Nachbarn und wollte es auch mal ausprobieren.“ Als sie so auf der Begrenzungsmauer am Dach saß, muss sie wohl eingeschlafen sein. Das Nächste, woran sie sich erinnert, ist, wie sie vor dem Haus auf dem Boden lag und man ein Brett suchte, um sie so schonend wie möglich ins Krankenhaus zu bringen.
Bald darauf war klar, dass sie querschnittsgelähmt sein würde. „Ich war schockiert“, sagt Samaher. „Wir kannten niemanden mit einer Behinderung, und ich hatte keine Ahnung, wo wir einen Rollstuhl herbekommen könnten.“ Es folgten Monate, die sie das Haus nicht verlassen wollte. „Ich traute mich nicht, unter die Leute zu gehen.“ Schließlich überwand sie sich doch. Ihr Vater fuhr sie täglich mit dem Auto zur Schule und holte sie danach wieder ab. „Damals in Syrien gab es keinerlei Aktivitäten für Behinderte“, erinnert sich Samaher, die schließlich einen Rollstuhl bekam.
„Ich konnte nicht akzeptieren, wie mich die Leute anstarrten.“
Sie fühlte sich zurückgesetzt. „Immer das ‚arme Mädchen‘ zu sein nervte gehörig!“
Den Weg gegen alle Widerstände gehen
Heute ist Samaher 40. Und Flüchtling. In Jordanien ist sie eine von 49.000 Flüchtlingen mit Behinderung, wo rund 730.000 Flüchtlinge bei UNHCR registriert sind. 170.000 leben mit besonderen Bedürfnissen und benötigen spezielle Hilfe. UNHCR-Schutzprogramme unterstützen Menschen wie Samaher gezielt und sind nur dank großzügiger Beiträge wie jenem der Bundesrepublik möglich. Noch als Schülerin in Syrien schwor sich Samaher, ihren Weg gegen alle Widerstände und gegen die Schikanen zu gehen: „Ich wollte mein Leben leben“, sagt sie, die die Rolle ihres Vaters hervorstreicht, ihre Situation mehr und mehr zu akzeptieren. „Er sagte: ‚Du hast noch ein langes Leben vor dir.‘“ Ein Onkel, der Psychiater war, half Samaher aus einem Tief heraus, das sie als Depression beschreibt. Mit der familiären Unterstützung im Rücken schloss sie die Schule ab und begann ein Studium der islamischen Religionswissenschaften. Dafür musste sie ein Auto mieten, um mit ihrer Schwester am Steuer an die Uni zu kommen. Da hatte der Syrienkrieg schon begonnen.
„Ich hatte richtig Angst, mit dem Auto von Daraa nach Damaskus zu fahren, als wir die Bomben fallen hörten.“
Dazu kam weiter das Gefühl, nicht dazuzugehören. „Der Anblick eines Menschen im Rollstuhl war schon ungewöhnlich, aber wenn der dann auch noch studierte….“, erinnert sich Samaher an „viel Bullying“.
„Nicht qualifiziert, weil Du im Rollstuhl sitzt“
„Nach dem Abschluss des Studiums brannte ich darauf zu arbeiten“, erzählt Samaher in ihrem Zimmer in der elterlichen Wohnung in der jordanischen Stadt Irbid, „und normalerweise reicht mein Abschluss, um zu unterrichten.“ Doch als sie bei einem Lehrer vorsprach, stieß die frisch gebackene Akademikerin auf eine unerwartete Hürde: „‘Du bist nicht qualifiziert, weil du im Rollstuhl sitzt‘, sagte er.“ Samaher beschloss rasch, diese Hürde zu nehmen und ein weiteres Diplom zu machen, um als Lehrerin akzeptiert zu werden. Doch dann kam doch noch der Krieg dazwischen: „Wir hörten dauernd die Flugzeuge, und die Bomben fielen weiterhin. Also beschlossen wir, fortzugehen.“ Ihr Bruder war vorausgegangen und hatte in Irbid eine Wohnung angemietet.
„Wir dachten, wir würden einen Monat bleiben.“
Das war vor zehn Jahren. Im Rückblick sagt Samaher, “bin ich erst in Jordanien so richtig selbstbewusst geworden“. Das ging nicht von heute auf morgen. Zunächst fand sie in einem von UNHCR unterstützten Gemeindezentrum Anschluss und die Möglichkeit, ihr Hobby, Kerzen zu fertigen, zu perfektionieren. „Ich habe auch andere Bastelkurse belegt.”
Kerzen und Empowerment
Inzwischen ist Samaher als Trainerin etabliert und hält Kurse zum Wiederverwenden von Plastik und Karton ab. Und sie hat ihr eigenes kleines Online-Geschäft etabliert – „House of candles and soups“. Ihre Kerzen stellt sich mit verschiedenen Gussformen aus Glas oder Silikon her. Zunächst schmilzt sie Paraffin ein, gibt Farb- und Duftstoffe dazu, bevor sie das Gemisch in die Formen gießt. Der Kerzendocht wird in einer Halterung fixiert, bis die Kerze ausgekühlt ist.
Als Mitglied des Women Empowerment Network hält sie auch Bewusstseinskurse für Frauenrechte und ist UNHCR dankbar für die Unterstützung in den Momenten, da sie sich als Behinderte diskriminiert fühlte.
„UNHCR hat mich vor Bullying beschützt, und ich konnte immer die Helpline anrufen, wenn ich mich bedrängt fühlte.“
An der Helpline von UNHCR in Jordanien gehen jeden Monat mehr als 200.000 Anrufe ein. Auf häufige Fragen bekommen Flüchtlinge automationsgestützt Standardantworten. Wer individuelle Beratung braucht wie Samaher, gelangt an einen von zehn Agentinnen und Agenten.
Solche Beratung und Schutzprogramme von Flüchtlingen mit besonderen Bedürfnissen auf Gemeindeebene wären nicht möglich ohne flexible Beiträge aus Deutschland. Die Bundesrepublik unterstützt so UNHCR in Jordanien, dem weltweit zweitgrößten Aufnahmeland pro Kopf. Flexible Beiträge erlauben es UNHCR, Gelder in Teile des Programmes umzuschichten, wie zum Beispiel Schutzprogramme auf Gemeindeebene, die sonst nicht ausreichend finanziert wären.
Deutsche Hilfe kann den Unterschied machen
Unweit Samaher's Wohnung kann man ein anderes Beispiel sehen – die Gesundheitsklinik mit dem Partner Caritas. UNHCR-Unterstützung für das Gesundheitswesen, für die die Organisation dieses Jahr keinerlei zweckgebundenen Beiträge bekommen hat, ist dank flexibler Beiträge dennoch möglich.
„Noch wichtiger“, sagt Dominik Bartsch, UNHCR-Vertreter in Jordanien, „ist die Flexibilität bei unvorhergesehenen Ereignissen. Dank deutscher Beiträge ist es uns ohne großen Aufwand möglich, rasch auf Dinge wie eine Pandemie zu reagieren, für die ursprünglich keine Mittel geplant waren.“
Diese Flexibilität ermöglicht es UNHCR, ein verlässlicher, berechenbarer Partner für lokale Organisationen zu sein und Flüchtlingen durchgängig Unterstützung zu gewährleisten. Deutschland trug im vergangenen Jahr 50,3 Millionen Euro zum UNHCR-Programm in Jordanien bei und war damit der zweitgrößte Geber. 2023 sind bislang 19,9 Millionen Euro (Stand Ende August) von Deutschland an UNHCR in Jordanien geflossen.
Als eine der Unterstützten kann Samaher noch nicht allein von ihren Umsätzen mit den Kerzen leben. Aber wenn sie Kerzen herstellt, sagt sie, vergisst sie all die Hürden rundum für eine Weile. „Meine Lieblingskerze ist die in lila mit dem Schmetterling. Schmetterlinge sind wie mein Ziel – hoch oben im Himmel zu fliegen.“