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Neue Perspektiven: Flüchtlinge richten ihre Kameras auf die Welt

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Neue Perspektiven: Flüchtlinge richten ihre Kameras auf die Welt

28 Jänner 2020
Aiesha Chiban, 15, (links) und ihre Schwester Durra, 21, aus Syrien, machen ein Foto mit einer Brezel, die sie auf dem Wiener Neujahrsmarkt gekauft haben. © UNHCR/Stefanie J. Steindl

Als Aiesha auf dem Neujahrsmarkt eine Brezel kauft, hat sie keine Ahnung, dass ihr Fotografielehrer darüber einen Vortrag zu Maßstab, Fokus und Perspektive halten würde. „Ich mochte einfach die kurvige Form“, lacht sie.

Aiesha Chiban, 15 Jahre, aus Syrien, ist Teil einer Gruppe von 25 geflüchteten Mädchen und Frauen, die einen Fotografiekurs bei dem in Bulgarien geborenen Anthropologen Kiril Kirkov belegen.

Aiesha hält die Brezel hoch, um ein Foto zu machen, aber Kiril wirft ein, dass das Bild spannender mit einer Person wäre. Also fotografiert Aiesha auch ihre Schwester Durra, 21.

Als Nächstes will Kiril, dass die Frauen auf den Bildern den Kontext zur Stadt berücksichtigen, „um zu zeigen, dass wir in Wien sind“. Deshalb liegt Aiesha jetzt auf dem Boden und versucht, die Brezel und das Gesicht ihrer Schwester sowie ein Museum im Hintergrund gemeinsam auf das Bild zu bekommen.

„Jetzt ist eine echte Fotografin am Werk!“, ruft Kiril begeistert.

Im zweiten Jahr in Folge ist der 52-jährige Kiril, ein Assistent an der Northern Arizona University, nach Wien gekommen, um im Rahmen seiner Master-Recherche einen einmonatigen Foto- und Filmworkshop für Flüchtlinge durchzuführen. Mit einer Menge Ausrüstung*, die er den geflüchteten Frauen leiht, hat er das Projekt „New Roots“ weitgehend selbst finanziert.

Warum?

„Warum nicht?“, fragt er. „Ich habe mein halbes Leben hinter dem Eisernen Vorhang verbracht. Ich weiß, was es bedeutet, vor einer Diktatur zu fliehen.“

 

In diesem Jahr stehen geflüchtete Frauen im Fokus des „New Roots“ Projektes.  UNHCR begleitet das Projekt. während das Frauenzentrum Wien (EGA) Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt hat. Die Teilnehmerinnen, fast alle Syrerinnen, die sich mit ihren Familien in Wien niedergelassen haben, sind sich einig, dass das Geschlecht für sie kein Thema war. „Ich wollte nur eine Chance zum Lernen“, sagt Amneh Alkhatib, 42 Jahre, aus Damaskus.

Jetzt bekommen geflüchtete Menschen, die vor allem nach 2015 im Mittelpunkt der Medien standen, die Gelegenheit, ihre Kameras auf die Welt zu richten. „Unsere Position ändert sich“, sagt Maram Khalifa, 30 Jahre, aus Damaskus. „Wir sind nicht mehr länger passiv, sondern können aktiv sein.“

Die Frauen sind auf verschiedenen Wegen zur Fotografie gekommen. Für Maram war es die Geburt ihrer beiden Kinder in Wien, die sie dazu veranlasst hat, ihr Handy zu nehmen und mit dem Fotografieren zu beginnen.

Ayat Makboul, 22 Jahre, aus Hama wurde von neuen Eindrücken inspiriert. „Ich habe wie verrückt fotografiert, als ich zum ersten Mal nach Österreich kam. Es gab so viele neue und unerwartete Dinge zu sehen.“

Kholoud Kanjo, 43 Jahre, kam aus Latakia, wo im Winter Orangenbäume blühen. „Wir landeten in Schladming (Steiermark) und ich sah zum ersten Mal Schnee und Skifahrer. Ich habe Bilder von Schnee auf Facebook gepostet.“

Die Frauen nehmen an Kirils Workshop teil, um ihre Fähigkeiten und Technik zu verbessern. Er hat mit ihnen Kunstgalerien besucht, um ihnen Komposition und Licht in den Werken großer MalerInnen zu zeigen. Er erklärt ihnen, dass sie nachdenken sollen, bevor sie ein Foto machen. „Man kann Farben manipulieren, aber man kann ein verschwommenes oder schlecht komponiertes Bild nicht mit Photoshop korrigieren“, warnt er.

Heute arbeiten sie unter freiem Himmel, im Hof des Wiener Museumsquartiers. „Das ist unser Spielplatz“, sagt Kiril. „Schaut euch die Treppen, Lampen, Balkone an - Formen und Strukturen aller Art.“

Die Aufgabe besteht nicht nur darin, zufällige Aufnahmen zu machen, sondern Fotos, die eine Geschichte erzählen. Bis zum Ende des Kurses müssen die Schülerinnen ein Projekt mit drei Bildern erstellen, die bei einer Ausstellung im EGA präsentiert werden.

 

Die Schülerinnen probieren sich im Hof aus, bis die Kälte sie nach drinnen treibt. Sie nützen die Zeit, um ihre Bilder auf den Computer zu laden und sich Feedback anzuhören.

Rasha Albaghdadi, 19 Jahre, aus Damaskus, hat eine Reihe von Bildern mit zu viel leerem Himmel oder Straßen ohne Menschen gemacht. Aber eine Aufnahme - ob beabsichtigt oder zufällig – sticht heraus.

Es gibt gerade genug Himmel, auf der einen Seite des Bildes befindet sich die Figur eines tanzenden Mädchens, auf der anderen eine kleine Menschengruppe.

„Das solltest du in dein Portfolio aufnehmen. Es könnte sich lohnen, es zu zeigen“, sagt Kiril.

Andere Schülerinnen denken über ihre Drei-Bilder-Projekte nach.

Ayat will den Krieg in Syrien mit Szenen aus Wien veranschaulichen, aber wie? Sie hat Aufnahmen von Häusern gemacht, die gerade gebaut werden und die wie jene Häuser aussehen, die in Syrien im Krieg eingestürzt sind.

Mais Aswad, 28 Jahre, aus Aleppo, hat früher einen Kunstkurs besucht, bei dem sie ein Ruderboot nach einem Foto, das jemand anderer gemacht hat, gemalt hat. Jetzt plant sie, zur Donau zu fahren und ein Boot zu fotografieren, um ein Echo ihrer Malerei zu erzeugen - ein Foto von einer Zeichnung eines Fotos.

Joumana Takriti, 35, aus Damaskus, mag „erstaunliche Momente, die Verwandlung bringen“ - Momente wie einen Kuss, den jemand auf die Wange bekommt, oder den aufgehenden Mond.

Für die Ausstellung weiß Joumana, was sie sucht - einen magischen Moment, der alles erleuchtet.

*Mit Dank an die Northern Arizona University School of Communications, die drei Fotokameras und eine Filmkamera zur Verfügung gestellt hat.